Das Cafe des Ostens erscheint in unregelmäßiger Folge
im Vogelfrei und befaßt sich mit den Literaturen Osteuropas.
Alle Artikel von Roland Balzer
Wo ist das Wirkliche (eine Einführung)
Vergessen (Gedicht)
Die Tochter der Moorfrau (Gedicht)
Sandor Márai und die Wege ins
literarische Ungarn (Essay)
Spuren des Ostjudentums (Essays)
Zum Ende des Ersten Weltkriegs – gegen die Vorbereitung eines Dritten
(Essay)
Mahnung an die Hüter (Gedicht)
Worte die wie Brot sind – Eine Lesung von Ales Rasanu
(Rezension)
Daruisz Muszer: Der Echsenmann (Rezension)
irklichkeit ist das, was wirkt. Das sagte der große Psychoanalytiker C.G. Jung. Er hat sich viel mit dem Vorkommen der Archetypen, der ursprünglichen Symbole in unserer Seele befaßt, die in Religion und Kunst wieder zu finden sind. Wir leben in einer Zeit, in der das Unwirkliche, die Illusion dominiert. Über 2000 Werbebotschaften wirken täglich auf uns ein. Unzählige Bilder liefern uns die Medien videoclip-artig jeden Tag. Wie kann man dabei noch einen eigenen Gedanken fassen, eine eigene Stimmung spüren? Die Worte, die über die Zeitungen und Nachrichten zu uns kommen, sind oft genug nur gesprochen, um uns zu verwirren.
„Überall ist Entenhausen“ überschrieb die Deutschlandfunk-Journalistin Cora Stephan vor kurzem einen Kommentar. Ente drängt sich an (Zeitungs-)Ente und nichts ist was oder wie es zu sein scheint, man denke nur an die Statistiken des Arbeitsamtes.
Virtuelle Welten umgeben uns auf jeder Ebene. Sie nehmen uns die Möglichkeit lebendiger Erfahrung. Sie degradieren uns zum Mülleimer, der sich mit beliebigen jederzeit austauschbaren Medieninhalten füllen läßt und dabei doch stets leer bleibt.
Ein Ich zu haben, eine Seele, ein Mensch der über die Schöpfung mit allem was ist, war und wird verwandt ist, dazu werden wir nicht angeleitet. Stattdessen wird jeder mit seinem steigenden Unbehagen an der Jetzt-Zeit allein gelassen.
Mein Weg, damit umzugehen besteht darin, mich in andere Kulturen und Zeiten einzufühlen solange bis ich erfassen kann, ein diese Leute uns wohl sehen würden. Gleichzeitig erfasse ich, dass unsere Zeit auch nur eine unter den vielen sich ablösenden Phasen der Geschichte ist, dass es auch anders ging, geht und gehen wird. So befreie ich mich aus dem geistigen Gefängnis der Gegenwart.
Das Café des Ostens ist ein Raum für die Sichtweisen und Standpunkte der Expressionisten und Weisen, der Skeptiker und Ekstatiker, der Helden und Narren, der Altmodischen und Kybernetiker des vermeintlich Untergegangenen wie des Kommenden. Wie jedes Café lebt es von seinen Besuchern und Gästen. Treten Sie ein.
Zunächst einige alte Gedichte aus den frühen achtziger Jahren, die in irgendeiner Weise den Charakter und die Gefühlsstimmung vorwegnehmen, die durch die Öffnung zum Osten entstand.
Wer war dabei in jener Runde
als Gott den Geist des Menschen schuf,
und Herz zu Herz verband sich jenem Bunde
der uns ein fern verhallend Ruf?
Ein Ruf, wie Kinder die verbrennen,
wie Frauen, die man niederstach,
wir Narren, die die Wahrheit kennen,
wie Knochen, die man einzeln brach.
Ihr werdet weiter vorwärts schreiten
und töten ohne Unterlaß.
Und Sinne werden euch entgleiten,
wie ein Planet, den man vergaß.
Ihr saßet nicht in jener Runde
und hörtet auch kein einzig Wort,
seid eines Weltenschöpfers Geisterstunde
und lebt so fern von Seinem Ort.
In ein Tuch geschlagen
im Morgendämmer liegt ein Buch.
Der Stecken ältrer Wandersagen,
ein kräftig beißender Geruch.
An diesem Feuer saß Der,
dessen meine Hoffnung harrte.
Allein von hier wohl ging Er,
der mich Jungen weise narrte.
Da war kein Tag, ihn zu sprechen.
Er wußte jemand kommt – und es war gut.
Gott schuf die Zeit nicht, um sie zu verzechen.
Die Wahrheit duldet keinen Übermut.
Da ist das Feuer, bald schon kommt die Nacht
Ich werde Holz nun selbst bereiten,
mich selbst erziehen zu stiller Wacht.
Und wider alles Finstre streiten.
Blond, von schlanken Gliedern,
leichter Wahn beflügelt ihren Schritt.
Wasseraugen unter Zauberlidern,
die ich – Scheue ahnend – mied.
Bald beugt Sturm die Kiefernwäldern,
Feuer zündet sie im Herd.
Stillvergessen ruhen Felder,
in der Esse schmiedet sie das Schwert.
Wohl dem, der es sinnend fasse,
auf die Schneide richtet seinen Blick,
der begreife, den verlasse
sieben Jahre nicht das Glück
Die Tochter der Moorfrau
Frostbehauchte Stufen steigend
Mädchen mich erblickte.
Leicht den Kopf zur Seite neigend,
freundlich sie mir nickte.
„Draußen ist die große Weite,
und der Schnee ist dreimal schwer,“
sagt´ich, „suche die Bereite,
die dort sein kann um mich her.“
„Stern“ war, was sie darauf lachte,
meine Zunft ist unbekannt.“
Fremd war, was sie innig dachte.
Rätsel ich am Himmel fand.
Sandor Márai und die Wege ins literarische Ungarn
in Bestseller, den auch die Literaturkritik
begeistert bespricht, ist ein seltenes Vorkommnis. 1999 war „die Glut“ von
Márai dem literarischen Quartett eine Empfehlung wert. Nun, da das zweite Buch
„Das Geheimnis der Eszter“ erscheint, widmet Klaus Harpprecht auch erstmals dem
Autor einen langen Artikel.
Als „einen
Meister“ bezeichnet er ihn, „den wir künftig neben Josef Roth, neben Stefan
Zweig, neben Robert Musil(...) nennen werden,“ um sich anschließend zu wundern,
daß der Autor, dessen 100. Geburdstag am 19.April 2000 ohne besondere Wahrnahme
verstrich, trotz 22 zwischen 1931 und 1978 in deutsch erschienenen Büchern so
wenig bekannt ist. Daran änderte auch die Herausgabe eines seiner Hauptwerke
der „Ansichten eines Bürgers“ im Oberbaum Verlag Berlin nichts. „Es brauchte,“
so fährt Harpprecht fort, „das Genjeralthema Ungarn auf der Buchmesse und einen
aufmerksamen Lektor beim Piper-Verlag(...)
Geholfen hat sicherlich auch eine hundertprozentige
Förderung des ungarischen Staates für Übersetzungen ins Deutsche anläßlich der
Buchmesse. Der seit einiger Zeit dem Bonnier-Verlagskonzern zugehörige Klaus
Piper Verlag hat aufgrund des Erfolges mittlerweile die deutschsprachigen
Rechte bzw. Optionen für alle Bücher Márais erworben, die interessanterweise in
Italien vergeben werden.
Wenn man Glück hat, kann man Marai auch anders
kennenlernen. Aus der Geht-nachher-in-den-Container-Kiste eines
Flohmarkthändlers zog ich 1996 eine Nachkriegs-Notausgabe der „Schule der
Armen“, die meines Wissens einzige deutsche Ausgabe dieses „Anstandsbüchlein, das
den Armen in einfacher und praktischer Manier darüber belehrt, wie er sich den
oberen Gesellschaftsschichten gegenüber verhalten soll, wie er lächeln, sich
erheben, sich setzen, zum Tanz bitten, Kartoffeln schälen, sich vorzustellen
oder die Senkgrube zu putzen hat, ohne besondere Formfehler zu begehen und ohne
die Kritik der feineren Welt herauszufordern.“
(Toth Verlag Hamburg, 1946, aus dem Vorwort von
Márai).
Die systematische Ironie mit der Alexander (die in
alten deutschen Ausgaben meist verwendete deutsche Übertragung von Sándor)
Marai im folgenden vorging und seine Beobachtungen des Alltagslebens, sein
Versuch „...die übernatürlichen Kräfte und politikfreien Zusammenhänge zu
erkennen, deren Folgen der Reichtum und die Armut sind,“ empfand ich als ebenso
treffend für die spät-kohleonische Epoche, daß ich beschloß dem Autor in
Budapest nachzuspüren.
Im Haus des ungarischen Schriftstellerverbandes gibt
es eine für jederman frei zugängliche Bibliothek. Dort, wo man in schweren
Sesseln unter den Portrais der ungarischen Schriftsteller sitzt, zeigte mir der
feinsinnig lächelnde Bibliothekar die ungarischen Bücher Márais der
Zwischenkriegszeit. Auch eine deutsche Ausgabe seines Nachkriegstagebuches, das
wenig Schmeichelhaftes über die russischen Truppen enthält, war vorhanden.
Sicher haben diese Bücher zeitweise gut verborgen auf ihre publizistische
Zukunkt gewartet. Eine ungarische Literaturgeschichte widmet ihm immerhin eine
Seite und resümiert: „unter den charakteristisch bürgerlichen Schriftstellern schuf
Márai das bedeutendste Lebenswerk.“ Allerdings werden kaum Werke erwähnt, die,
nachdem Marai 1948 ins Exil ging, im Nachkriegsungarn nich gewollt waren, und
nicht erschienen.
Es war bereits sein zweites Exil, ins erste Exil
mußte er, weil er für revolutionäre Zeitungen zur Zeit der ungarischen
Räterepublik nach dem ersten Weltkrieg geschrieben hatte. Damals war er 19 und
gerade aus dem heute slowenischen Kosice nach Budapest gekommen. Nachdem die
Räterepublik nach wenigen Monaten von rumänischen Truppen, die Budapest
besetzten, gestürzt wurde und ein dreijähriger Terror gegen ihre Anhänger
begann, mußte er Ungarn verlassen und ging nach Deutschland. Sein Ziel war
Journalist zu werden, zunächst ein Diplom am Institut für Zeitungskunde zu
machen. Finanzielle Unterstützung bekam er von seinem Vater aus Kosice.
Zunächst lebte er in Dresden, wo er auch einige Artikel für die Zeitschrift
„der Drache“ schrieb. Ausserdem schrieb er für Zeitungen in Ungarn, z.B. für
die Kassi Náplo, die Újsag und für die in Wien erscheinende ungarische Zeitung
„Panorama“. Literarisch interessierten ihn damals vor allem Thomas Mann und
Franz Kafka. Er entwickelte den Plan „Buddenbrooks“ ins ungarische zu
übersetzen. Kafka widmete er mehrere Artikel zu den Werken „die Verwandlung“ und
übersetzte auch Werke von ihm. Im Nachkriegsdeutschland des ersten Weltkrieges
interessierte ihn besonders der Expressionismus: Er schrieb auch Lyrik, die
ersten beiden von ihm erschienenen Bücher sind Gedichtbände. Von Kurt Pinthus,
den er kennenlernte übersetzte er einige Gedichte aus Menschheitsdämmerung, die
zusammen mit seinem zweiten Gedichtband „Emberi hang“ erschienen.
Oswald Spenglers Werk: „Der Untergang des
Abendlandes“ beeinflußte ihn sehr. In seinem ersten in Wien erschienenen Roman
„A Mezaros“ (der Metzger) ist dieser Einfluß spürbar. Durch Vermittlung seines
Freundes, des Übersetzers I. Klein kam er in Kontakt mit der Frankfurter
Zeitung für deren Feuilleton er in den folgenden Jahren arbeitete. 1923 kam
seine Jugendliebe aus Kosice nach Deutschland, um ihn zu heiraten und über 60
Jahre bis zu ihrem Tod bei ihm zu bleiben.
Im Herbst 1923 ging er mit seiner Frau nach Paris.
Darüber erfahren wir in der „Schule der Armen“: „So arm, wie in jener Zeit in
Frankreich, habe ich mich weder früher , noch später je gefühlt. Ich fühlte
mich geradezu verlaust und verkrüppelt, die Armut beeinflußte so sehr meinen
Gemütszustand, daß ich reif gewesen wäre für den Hof der Bettler im XV.
Jahrhundert, reif für die Gesellschaft eines Villon. Den Luxus, den ich später
nie entbehrte und dessen Mangel mich auch nie schmerzlich berührte, begehrte
ich in Paris, sozusagen wie einen mir abhanden gekommenes Körperteil; ein
Luxusauto, eine Luxusbuchausgabe, eine Luxusfrau, ein Luxuskinderwagen im Bois
de Bologne entlockten mir laute Klageworte, die ich zeitweise auch zu Papier
brachte, mit der unklaren Absicht, als Andenken an mein Elend ein Grand- und
ein Petit-Testament zurückzulassen. So jammerte ich. Ich hatte allen Grund,
mich als ausgestoßen aus der menschlichen Gemeinschaft zu fühlen, denn ich war
jung, talentiert, damals sogar auch ein Dichter, kurzum ich war in Paris – aber
ohne Geld“.
Nachdem er 1929 ins vom Generalissimus Horthy
regierte Ungarn zurückkehren konnte, begann sein Aufstieg als
Romanschriftsteller mit den „Ansichten eines Bürgers“. 1933 erschien die
„Schule der Armen“ („a szégenyek ískola“). In der von Tíbor
Podmanitzky übersetzten deutschen Ausgabe findet sich die falsche Angabe 1943
für die Originalausgabe, möglicherweise wollte man das Buch aktueller
erscheinen lassen, unnötigerweise, denn es ist bis heute aktuell, da Márais Vorhaben „mein Werk
unabhängig von modernen Strömungen der Zeit und unsere Epoche auf reale
Grundlagen aufzubauen“ mehr als gelungen ist. Man kann nur wünschen, daß der
Piper Verlag es bald wieder zugänglich macht.
Aufgetaucht aus meinen Recherchen zum frühen Márai
lernte ich in der Bibliothek des Schriftstellerverbandes eine alte Dame kennen,
die eifrig vergilbte Artikel kopierte. Unser Gespräch wurde durch ihre
ausgezeichneten Deutschkenntnisse erleichtert, es war die Malerin Marianne
Gabor und die Artkel stammten von ihrem verstorbenen Mann. Míhaly András Rónai
hat – wenig jünger als Sándor Márai – ebenfalls als Journalist und
Schriftsteller die Fährnisse Ungarns und Europas im 20.Jahrhundert von allen
Seiten kennengelernt. Aus einer bildungsbürgerlichen Familie stammend, war er
in den dreißiger Jahren Korrespondent in Paris und Rom, erlebte in den vierziger
Jahren den Antisemitismus des mit Deutschland verbündeten Hórty-Regimes und
überlebte die Morde der ungarischen Faschisten, der Pfeilkreuzer in der letzten
Phase des Krieges, denen sein Bruder, Frau Gabors Vater, ebenfalls ein
Schriftsteller, Gelehrter und Leiter eines privaten Gymnasiums, und Frau Gabors
Mutter zum Opfer fielen.
Als linkssozialdemokratisch engagierter Journalist
wurden er und seine Frau, die sich weigerte, ihre Malerei in den Dienst der
stalinistischen Propaganda zu stellen, mit Veröffentlichungsverbot und das hieß
damals: mit Hunger – bestraft und kaltgestellt.
Erst nach 1956 bekamen sie Möglichkeiten, ihre
hochstehende Kunst zu zeigen und konnten später sogar ins Ausland reisen.
Anders als Márai wollte Míhaly András Rónai Ungarn niemals verlassen, sondern
wirkte durch seine Artikel, seine Bücher und Übertragungen italienischer
Dichtungen an der allmählichen inneren Öffnung Ungarns mit. Eines seiner
Hauptwerke sind die „Acht Jahrhunderte italienischer Dichtung“, eine
kommentierte Übertragung der großen italienischen Klassiker ins Ungarische. In
„Párisi négi” beschreibt er den Vorabend des zweiten Weltkriegs in Paris. Das
Werk seiner Frau wurde 1980 in einer großen Ausstellung in der Ungarischen
Nationalgalerie gewürdigt und von der Stadt Florenz durch die Goldmedaille für
außergewöhnliche künstlerische Leistungen und den Ankauf einiger ihrer Bilder
für die Uffizien. In dieser Frau fand ich etwas, das ich für längst nur noch in
den Geschichtsbüchern auffindbar hielt. Eine Verbindung zur großen bürgerlichen
Kultur der Jahrhundertwende, ein uns unbekanntes Niveau europäischer Kultur und
Zeitzeugenschaft des Jahrhunderts, das sie als letzte ihrer Familie bis ins
neukapitalistische Ungarn herübergerettet hatte. Die Familien Rónai und Gabor
zählen eine ganze Reihe von Schriftstellern und Malern von denen in Deutschland
bislang lediglich der Maler Rippl-Rónai bekannt ist. Sie ist nun bemüht, die
zum größten Teil nicht mehr verfügbaren Werke ungarisch herauszugeben. Diese
Begegnung zeigte mir, daß es in Ungarn mehr als einen Meister wiederzuentdecken
gibt. Ein großer Teil des geistigen Ungarn, das stets einen wachen Blick auch
über die Grenzen hinaus hatte, ist uns nach wie vor unbekannt. Wir haben in
diesen Autoren Beobachter, die uns manches über unser mitteleuropäisches Werden
mitteilen und uns ungewohnte Standpunkte vermitteln können. Auch die jungen
Talente machen sich durch eigene Literaturzeitungen bemerkbar.
Allen Lektoren, die auf der Suche nach Perlen sind,
kann ich nur empfehlen: Fahren sie selbst in den Osten. Falls man Ihnen die
Reisekosten verweigert, knebeln sie notfalls die Sparkommissare und rauben sie
die Portokasse ihres Verlages aus. Es gibt viel zu entdecken – und sogar zu
verdienen.
Mein Dank gilt Frau Lúca Haraszi vom Ungarischen
Schriftstellerverband, Herrn Iván Földéak vom Presseamt der Ungarischen
Regierung, Herrn Péter Kakusci von der Universität Szeged und ganz besonders
Frau Márianne Gábor in Budapest.
ach wie vor kennen wir wenig
vom europäischen Osten, der uns zu Zeiten des Kalten Krieges als monolithischer
Ostblock dargestellt wurde. Die differenzierende Betrachtung einer Vielzahl von
Sprachen, Nationalitäten, regionalen Kulturen und Gemeinwesen eigener Prägung
beginnt erst in den letzten Jahren. Die Existenz dieser regionalen Kulturen
wurde früher durch die offizielle Geschichtsschreibung der östlichen Länder
geringgeschätzt im Gegensatz zu den Leistungen und Errungenschaften der Partei.
Auch der nur eingeschränkt mögliche Reiseverkehr kam der westlichen Übernahme
der östlichen Halbwahrheiten entgegen.
Was aber schon für die
Zeitgeschichte gilt, gilt um so mehr für die Ereignisse der früheren Zeiten.
Aus ihnen sind meist nur die großen Ereignisse bekannt, etwa der Krieg
Napoleons gegen Rußland. Was sich außerhalb der Metropolen und Städte weit im
tiefen Land abspielte, darüber haben wir noch weniger Wissen.
Mir haben zwei Werke (Arnold
Zweig: Das ostjüdische Antlitz: in Herkunft und Zukunft, 1924 und Martin Buber:
Die Erzählungen der Chassidim, 1949) als Reiseführer in eine Welt gedient, die
von unserer aufgeklärten, westlichen, materialistischen Welt sehr verschieden
ist. Es ist eine Kultur der Seele, die ihren Ursprung in den jüdischen Dörfern
und Stadtvierteln des Ostens hat.
Die über Rußland,
Weißrußland, Posen und Österreich-Ungarn verstreuten jüdischen Siedlungen
sprachen die Jiddische Sprache. Das Jiddische verweist auf ihre Ausgangsheimat
Deutschland, denn es ist ein altes Deutsch, durchsetzt mit hebräischen
Ausdrücken.
In der Zeit des
Hochmittelalters wurde Deutschland von zwei Plagen heimgesucht: Der Pest und
der Hunnengefahr. Insbesondere um 1250 und um 1350 wütete die Pest so stark,
daß in manchen Städten zwei Drittel der Bewohner innerhalb eines halben Jahres
starben. Die Übriggebliebenen und die Kirche machten die Juden für die
verheerende Krankheit verantwortlich, klagten sie der Brunnenvergiftung und der
Zauberei an. Die jüdischen Stadtviertel wurden überfallen, ausgeraubt und
niedergebrannt. Die überlebenden Juden verließen die Städte und zogen in
Richtung Osten. Dort gab es große, durch die Hunnen entvölkerte Landstriche,
slawische Fürsten, denen die Zuwanderer teils willkommen waren und
neugegründete Städte, die sie duldeten.
Oft gründeten die
versprengten Gruppen eigene Dörfer von denen sich manche im Lauf der Zeit zu
kleinen Städten entwickelten. Diese jüdischen Gemeinden lebten bis auf
Zahlungen an die lokalen Fürsten in relativer rechtlicher Selbständigkeit. Ihr
Recht wurde von den Forderungen der Religion und der Überlieferung des Talmuds
bestimmt, ihre eigene Sprache brachte ein zusätzliches Element der
Unabhängigkeit in das Leben ihrer Gemeinden.
Die Weite des Landes machte
es möglich, daß polnische, litauische, jiddische und russische Dörfer
nebeneinander bestanden, jedes eine Welt für sich. Bei Verfolgungen, die auch
in der neuen Heimat nicht ausblieben, gab es die Chance in eine unbewohnte
Gegend oder das Gebiet eines anderen Fürsten auszuweichen. Diese Situation zog
sich bis ins ausgehende 19. Jahrhundert hin, als russische Pogrome gegen die
Juden zu einer Auswanderung nach Österreich-Ungarn führten.
Im Städtel aber oder der
Landgemeinde lebte man in seiner eigenen jüdischen Welt. Es gab vor allem einen
Unterschied zu den anderen Bewohnern des Landes. Die Juden waren schriftkundig.
Ihre Rabbis, Richter und Lehrer, der in den hebräischen Schriften überlieferten
Religion und des daraus folgenden Rechtes kundig, vermittelten ihr Wissen auch
an die Handwerker und Bauern. Schon die siebenjährigen Kinder lernten im
Talmud, der zentralen, stets fortgeschriebenen jüdischen Überlieferung, die bis
in die babylonische Zeit zurückgeht. Der vollständige Talmud umfaßt mehr als
20000 Bände und so hörte der fromme Jude bis zu seinem Tod nicht auf, täglich
zu lernen. Lernen und Lernen muß man die Texte, sagte man und das hieß –
verstehen und verinnerlichen. Das Ansehen eines Juden in seiner Gemeinde hing
sehr stark von seiner religiösen Bildung ab. Das frühe Lerntraining und das mit
der Bildung verbundene Ansehen sind Hauptgründe für die große Zahl jüdischer
Intellektueller, die, als die Universitäten ihnen zugänglich wurden, bald eine
bedeutende Rolle spielten.
Von uns aus gesehen ist es
eine merkwürdige Vorstellung, daß in einem abgelegenen osteuropäischen Ort arme
Schuster und Handwerker täglich hebräische Texte studieren und diskutieren, ins
Bethaus gehen, den Sabbath begehen und jüdische Feste feiern, und doch machte
dies für Jahrhunderte das Leben jüdischer Gemeinden des Ostens aus. Dabei sind
diese Texte so zugänglich wie juristische und religionskundliche
Kommentarsammlungen. Materieller Reichtum und höhere Positionen waren ihnen
verschlossen. Besaß einer Herd und Küche, so konnte er sich glücklich schätzen
und heiraten. Allenfalls durch Kleinhandel konnte ein Jude einen begrenzten,
stets gefährdeten materiellen Wohlstand erreichen. Dies war für sein Ansehen
weniger wichtig als seine religiöse Bildung und seine Bereitschaft, dem Rabbi
zu steuern, damit dieser den ganz Armen Zuwendungen machen konnte.
Noch seltsamer als uns
müssen die Juden ihren bäuerlichen osteuropäischen Nachbarn erschienen sein,
die aber – arme Leute müssen zusammenhalten – meist in guter Nachbarschaft mit
ihnen lebten und ihren Kleinhandel trieben. Konflikte, die in Pogromen und
Vertreibungen mündeten, wurden meist durch Adel und Kirche ausgelöst. Die in
den Städten lebenden Juden suchten oft durch Wohlverhalten und Geldzahlungen
kritische Situationen zu überstehen. Dies nutzte man zu regelmäßigen
Erpressungen – Geld oder Vertreibung. Es ist also kein Wunder, daß der
städtische Jude einen gewissen Eifer im Geldhorten entwickelte. Es ging dabei
schlicht um die Sicherheit seiner Familie und seines Hauses.
n der ersten Folge dieser
Reihe habe ich erzählt, wie die Ostjuden aus Deutschland, Frankreich und Österreich
im Hochmittelalter nach Osten gewandert sind und sich im heutigen Weißrussland,
Russland, Polen und Ungarn angesiedelt haben. Für den zweiten Teil war die Zeit
von 1400-1700 vorgesehen. Ich bin hoffnungslos daran gescheitert, diese Zeit zu
recherchieren. Wer sie zufällig persönlich miterlebt hat - schließlich glauben
viele Ostjuden an Reinkarnation - ist aufgefordert, mir über den Glauben, die
Städtel, das Leben und die sabbatianische Bewegung zu erzählen.
Bis dahin vertreiben wir uns die Zeit mit dem
Erzählen von Witzen, jüdischen Witzen natürlich, denn schließlich sagt kaum
etwas mehr über das Alltagsleben und die Mentalität eines Volkes aus, als seine
Witze. Die Juden lebten unter Russen, Polen, Weißrussen, Deutschen, Heiden,
Katholiken, Protestanten und Orthodoxen und mit allen mußten sie sich
verständigen und ausgleichen, um doch ihre eigene Kultur beibehalten zu können.
Daher ihre sprichwörtliche Anpassungsfähigkeit - auch beim Militär:
Vor der Schlacht tritt der
Offizier an die Truppe heran und sagt feierlich: „Soldaten, jetzt geht es Mann
gegen Mann!“
Infanterist Rubin: „Zeigen
sie mir bitte meinen Mann! Vielleicht kann ich mich gütlich mit ihm
verständigen.!“
Gerade
Offiziere, ob nun russische, polnische oder österreichische, waren gefährliche,
weil mit Macht ausgestattete - wenn auch nicht immer intelligente -
Unterdrücker der Juden. Hier war Gewitztheit am Platz, wenn man sich behaupten
wollte:
In
einem Zugabteil erster Klasse sitzt ein Jude einem schlafenden Offizier
gegenüber. Plötzlich wird ihm schlecht, und er erbricht sich auf die Uniform
des Offiziers. Er erschrickt tödlich, dann aber faßt er sich, beginnt den
Offizier eifrig abzuwischen, weckt ihn auf und fragt teilnahmsvoll: „Ist Ihnen
schon wieder besser?“
Wieder im
Zugabteil. Ein Hauptmann und ein Jude sitzen einander gegenüber. Der Jude nimmt
aus der Rocktasche ein Zigarrenetui, holt ein Zigarre heraus, steckt das Etui
ein, schneidet die Zigarrenspitze ab, steckt sich die Zigarre in den Mund und
reißt ein Zündholz an. Da springt der Hauptmann hoch, reißt dem Juden die
Zigarre aus dem Mund und wirft sie in hohem Bogen aus dem Fenster.
Der Jude: „Was
erlauben Sie sich?“
„ Hier wird
nicht geraucht!“
„Aber ich habe
ja gar nicht geraucht!“
„Hier werden auch
keine Vorbereitungen dazu getroffen.“
Kurz darauf
nimmt der Hauptmann eine Zeitung hervor. Eben will er anfangen zu lesen, da
reißt ihm der Jude die Zeitung aus der Hand und wirft sie ebenfalls aus dem
Zug.
Der Hauptmann:
„Was erlauben Sie sich?“
„Hier wird
nicht gesch...en!“
„Hier werden
auch keine Vorbereitungen getroffen!“
Arme
Juden, reiche Juden - jeder hat so seine Geschäfte.
Ein armer Jude
beharrt darauf, nur mit Rothschild persönlich zu sprechen. Schließlich wird er
vorgelassen. „Ich bitte Sie um eine Unterstützung“, sagt er. „Nun hören Sie
aber“, sagt Rothschild ärgerlich, „deswegen mußten sie mich persönlich
behelligen?“
„Herr Baron“,
gibt der arme Jude zurück. "Sie mögen von Bankgeschäften mehr verstehen
als ich. Aber wie man am besten schnorrt, das weiß ich besser als Sie."
Rothschild ist
sehr beschäftigt. Ein Besucher kommt. Rothschild, ohne aufzublicken: „Nehmen
Sie einen Stuhl!“ Der Besucher empört: „Ich bin der Fürst von Thurn und Taxis!“
Rothschild versöhnlich: „Nehmen Sie zwei Stühle.“
„Wenn Du auf
der Straße hunderttausend Rubel fändest - würdest Du sie abliefern oder
behalten?“ „Weißt Du - es kommt ganz
darauf an. Wenn ich wüßte, daß das Geld dem reichen Baron Rothschild gehört -
dann würde ich es behalten. Aber wenn es dem armen Schammes gehören würde,
würde ich es unbedingt zurückgeben.
Schwierige
Rechtsfälle
Kaiser
Franz Joseph, der insgesamt 64 Jahre Österreich-Ungarn regierte, war in seinen
späten Jahren sehr leutselig, aber auch schon etwas schusselig. Im Gefängnis
fragte er einen Gefangenen: „Na wie lange haben Sie denn?“ „Lebenslänglich,
Majestät.“ „Ach, wissen´s was, ich schenk Ihnen die Hälfte.“ Keiner wußte nun, wie
die Anweisung ausgeführt werden sollte, niemand hätte sich getraut, den Kaiser
zu fragen. Schließlich fragte man einen alten Rabbiner nach einer Lösung. Der
antwortete nach etwas Bedenkzeit: „Soll er sitzen einen Tag, soll er frei sein
einen Tag.“
Leben
mit verschiedenen Konfessionen
Antisemit: „Alles Unglück
kommt von den Juden“
Jude: „Nein, von den
Bycyclisten (Fahrradfahrern)“
Antisemit: „Wieso von den
Bycyclisten?“
Jude: „Wieso von den Juden?“
Vor dem
Stephansdom in Wien.
„Tate (Vater),
was ist das für ein Haus mit dem hohen Turm?“ „Mottele, das sollst Du schon
wissen: das ist eine Kirche.“ „Was ist eine Kirche?“ „Nun, die Gojim
(Nichtjuden) sagen, da wohnt der liebe Gott drinnen.“ „Aber Tate, der liebe
Gott wohnt doch im Himmel!“ „Sollst recht haben! wohnen tut er im Himmel. Aber
da drinnen hat er sein Geschäft.“
Zum
Schluß ein Beitrag zu einer aktuellen Problematik. Der Witz ist über hundert
Jahre alt.
Ein frisch
eingereister russischer Jude in Kaftan und Pelzmütze (der traditionellen Tracht
der Juden in Osteuropa) wird in Königsberg von einem Polizisten angesprochen:
„Haben Sie Ausweispapiere?“
„Ausweispapiere?!“
fragt der Jude entsetzt, „ich bin doch
zum ersten Mal in Deutschland. Wie kann ich da schon ausgewiesen worden sein!“
Mögen sich alle, die sich bemühen, uns vor den
Schutz- und Brotsuchenden aller Länder zu beschützen, bewußt werden, in welch
alter deutscher Tradition sie stehen.
So, für heute haben wir Witze erzählt, in der
nächsten Folge geht es um die Chassidim, die Frommen und ihre Rabbis, die
Zaddiks, über die Martin Buber eine Reihe von Büchern geschrieben hat.
nsere Zeit ist reich an
Beschäftigung mit esoterischen Vorstellungen. Überall gibt es Bücher und
Grüppchen und Lehren, die `das ungenutzte Potential des Menschen erschließen´,
`den Blick für die geistigen Realitäten eröffnen´, `die Krankheiten der Zeit heilen´ wollen.
Es gibt ein großes Bedürfnis, sich mit existentiellen
Fragen zu beschäftigen. Dabei verlieren die klassischen Hauptvertreter der
Religion, die evangelische und die katholische Kirche in Deutschland seit
vielen Jahren an aktiven und passiven Mitgliedern und Vertretern. Ihr Wirken
hat stark an Anziehung und Glanz verloren. Wie geht das zusammen?
Ein Zaddik hörte einmal
einen seiner Chassids im Bethaus das Glaubensbekenntnis sprechen. Nach kurzer
Zeit brach er ab und murmelte: „das versteh ich nicht“, dann nochmals „das
versteh ich nicht.“ Der Zaddik kam dazu und fragte ihn: „was ist es, das Du
nicht verstehst?“
„Ich spreche `ich glaube an
den lebendigen Gott´, wenn ich aber wirklich glaube, warum sündige ich dann,
und wenn ich sündige glaube ich dann? „Es heißt“, erwiderte der Zaddik, „
`ich glaube´ sei ein Gebet, das bedeute
`ich möge glauben´“. „So ist es recht“, rief der Chassid mit lauter
Stimme und erglühendem Antlitz. „Möge ich glauben, Gott, möge ich glauben!“
Re-ligio, die
Rück-Verbindung hat immer den Gegensatz zwischen innerem Erleben dieser
Rückverbindung und dem Tradition gewordenen formelhaften Bekenntnis zu ihr
aushalten müssen. Sie geht aus von den außerordentlichen Erfahrungen besonderer
Menschen wie Jesus, Moses, Buddha, oder Mohammed, die von ihren Schülern
übermittelt, später aufgezeichnet, gedeutet, übersetzt und weitergegeben werden
und zwar über Jahrtausende. Schließlich werden kirchliche Organisationen
gegründet, heilige Kriege geführt, Kirchensteuern eingezogen, das formelhafte
Bekenntnis zum Glauben zur Pflicht gemacht.
Wenn Ihr glaubt, möchte man
fragen, warum sündigt ihr dann? „Du sollst nicht töten!“ lautet das Gebot. Es
ist Teil der Überlieferung der Juden, der Christen und der Muslime. „Du sollst
nicht töten!“ ohne wenn, aber, außer...
Wenn also die Rückverbindung zum Seelischen,
Geistigen, Göttlichen keine Erfahrung mehr ist, so wird aus dem formelhaft
Weitergegebenen allmählich ein Lippenbekenntnis. Die Lippen sprechen es, aber
die Seele fühlt es nicht mit. Die Religion -die Rückverbindung ist nicht mehr
lebendig.
In den großen Religionen
treten über Jahrhunderte hinweg immer wieder Menschen auf, die diese direkte
Rückverbindung erneuern, Franz von Assisi etwa, oder Jeanne d`Arc. Heilige
werden sie später genannt, zu ihren Lebzeiten gelten sie vielen als Ketzer.
Ein großer Erneuerer der
mosaischen Religion ist Israel ben Eliser, der Balschemtow (1700-1760) mit dem
die Bewegung der Chassidim begirnnt. Chassidim, das bedeutet `die Frommen´ oder genauer `die Bundestreuen´. Ihre Lehrer sind die
Zaddiks, `die Gerechten´, genauer `die
in ihrer Rechtmäßigkeit Bewährten´. Mesbiz und Mesritsch sind die
Ausgangspunkte dieser Bewegung, die das Leben vieler Ostjuden im 18. und 19.
Jahrhundert tief beeinflußte. Anhänger hatte sie vor allem in Polen,
Weißrussland, Russland, der Ukraine, aber auch in Ungarn und Rumänien.
Grundlage der jüdischen
Religion ist die Thora, d.h. Gotteslehre, die wir als Altes Testament kennen,
wenn wir es denn kennen. Die Sprache der Thora ist (alt)-hebräisch. Bei den
Ostjuden, deren Verkehrsprache jiddisch, eine Mischung aus mittelalterlichem
Deutsch und Hebräisch war, lernten bereits die Kinder hebräisch. In der `Schul´ wurden sie mit der Thora und dem
Talmud, einer durch Jahrtausende gewachsenen Kommentarsammlung jüdischer
Meister zu Recht, Leben und Glaube
bekannt. Sie lernten sogar, wie man darüber diskutiert, denn in er jüdischen
Tradition ist es anerkannt, daß die Diskussion verschiedener Ansichten und
Deutungen die religiöse Entwicklung befördert.
Die Folge war, daß das
religiöse Wissen einfacher Handwerker durchaus mit dem heutiger Theologen
konkurrieren konnte. Tägliches lebenslanges Lernen gehörte dazu. Wer nun
besonders befähigt zu Lernen, Gebet und rechtschaffener Lebensführung war,
wurde irgendwann `Rabbi´, d.h. Lehrer,
genannt und oft als Ortsgeistlicher oder Richter von der Gemeinde, dem Dorf
oder `Stedtel´, dem jüdischen Bezirk einer Stadt aktzeptiert. Rabbi wurde man
also nicht durch Einsetzung einer organisierten Autorität, sondern durch die
geistliche Anerkennung seiner Mitbürger. `Rabbi´ konnte auch ein Ehrentitel
sein, der ausdrückte, daß man von diesem Menschen besonders viel lernen konnte.
Ich schreibe dies so ausführlich, weil wir deutschen `Gojim´ (die nicht mosaischen Glaubens sind) im allgemeinen kein
Wissen darüber haben. Die Nachfahren der Menschen, über die ich hier schreibe
wurden zu fast 90% ermordet, die meisten vom deutschen Staatsapparat des
Nazireichs, viele andere durch Verfolgungen im Zarenreich und durch die
Erschütterungen Osteuropas im und nach dem Ersten Weltkrieg.
Die durch persönliches Leben erfahrenen Religion, das aus der Religion bestätigte Leben sind Kennzeichen des chassidischen Daseins. „Die chassidische Lehre ist wesentlich ein Hinweis auf ein Leben in Begeisterung, in begeisterter Freude. Aber diese Lehre ist nicht eine Theorie, die unabhängig davon besteht, ob sie verwirklicht wird. Vielmehr ist sie nur die theoretische Ergänzung eines Lebens, das wirklich von den Zaddikim und Chassidim gelebt worden ist, insbesondere in den ersten sechs Generationen der Bewegung, von denen dies Buch erzählt. (Martin Buber, Die Erzählungen der Chassidim, aus dem Vorwort). Die Beschäftigung mit den Tiefen der Seele, des Geistes und der Welt als schöpferische Praxis des Alltags ist den Chassidim wesentlich und selbstverständlicher Lebensinhalt. Von ihnen und Ihren Lehrern, den Zaddikim, wird die nächste Folge mehr Überliefertes berichten.
Die Welt ist voller Wunder und
der Mensch
verdeckt sie sich mit seiner
kleinen Hand.
Israel ben Eliser, der Baal-Schem-Tow
as Verständnis einer anderen
Kultur wird nicht nur durch mangelndes Wissen erschwert, sondern mehr noch
durch fehlendes Einfühlungsvermögen. Wissen kann man vieles, schwer aber ist
es, einen Hauch des Seins von Menschen zu finden, die eine andere Entwicklung
genommen haben, von einer anderen Zeit geprägt und belebt sind.
Das gilt besonders für die spirituelle Kultur der
Chassidim, die mit Israel ben Eliser (1700-1760) beginnt. Den Juden Osteuropas
war es trotz Verfolgung und Armut durch das Mittelalter und die frühe Neuzeit
gelungen, ihre antike Kultur weiterzugeben. Frömmigkeit und Lehre bestimmten
ihr Leben und ihre Gesellschaft. Aus uralten Büchern lernten schon die Kinder
im Cheder, der religiösen Elementarschule Lesen,Bibel und Talmud. Sie lebten
für sich in Dörfern und kleinen Städten. Es gab viele Kinder, keine
wirtschaftlichen Möglichkeiten, eine mittelalterlich ständische Gesellschaft
und immer wieder Verfolgungen und Vertreibungen.
So lebten die Juden inmitten ihrer russischen,
ukrainischen, weißrussischen, polnischen und deutschen Nachbarn. Aber die
Schrift allein - tausendfach wiederholt - gedeutet - kommentiert - gelernt und
wieder gelernt erhält über die Jahrhunderte einen dürren papiernen Charakter
wie eine vertrocknende Frucht. Wer darüber diskutiert ob ein am Feiertag
gelegtes Ei verzehrt werden darf oder nicht, ist in Gefahr den Kontakt zum
Leben des Volkes zu verlieren.
In einer solchen Zeit tritt Israel ben Eliser als
ein Weiser, ein Heiler und ein Lehrer hervor. In engem Kontakt mit den
einfachen Menschen lebend, die ihm wunderbare Kräfte zuschreiben, sucht er
seinen Platz nicht unter den angesehenen Schriftgelehrten, sondern ist mit den
Armen und Unwissenden. Mit der Zeit kommen Schüler zu ihm, die von ihm lernen
wollen. Der Berühmteste unter ihnen ist Rabbi Dow Bär, der später selbst 300
Schüler in die chassidischen Weisheiten einführt. Dabei geht es nicht um eine
neue religiöse Schule im an Schulen nicht armen Judentum, sondern um eine
gelebte intensive Verbindung von täglichem Handeln und Glauben. Mit anderen
Worten, um die Überzeugungskraft der Persönlichkeit. Viele dieser Schüler
gründen eigene chassidische Gemeinden und so breiten sich die Chassidim in
Ostpolen, Russland, Weißrussland und der Ukraine aus.
Durch sechs Generationen leben die chassidischen
Rabbis als Mittelpunkt ihrer Gemeinden, als spirituelle Lehrer und als
"gute Juden", als Wahrer der jüdischen Tradition.
Unsere Zeit, die es gewohnt ist, aus der Ferne zu
urteilen, kann sich die damalige Zeit, als man sich allein durch persönliche
Anschauung, Erzählungen und überlieferten Geschichten sich ein Bild von einer
Person zu machte, nicht wirklich vorstellen.
Es geht damals nicht um Richtungen, Etiketten,
Ideologien sonder einzig um die persönlichen Anliegen der Menschen und die
Fähigkeiten ausgezeichneter Persönlichkeiten auf sie einzugehen. So hat
letztlich jeder Zaddik (chassidischer Rabbi) eigene unverwechselbare Qualitäten
und Fähigkeiten und mit ihm, mit seiner Gemeinde und seinen Schülern steht und
fällt das chassidische Leben eines Ortes.
Der Mensch und die Seele standen im Mittelpunkt,
etwas, was man von unserer jetzigen Gesellschaft nicht behaupten kann.
Natürlich stießen die Chassidim auch auf Kritik, einerseits von den
"Aufgeklärten", die ihren mystischen Wunderglauben ablehnten und
andererseits von den Orthodoxen, denen sie nicht streng genug nach der
Tradition lebten.
Drei Juden, vier Meinungen, sagt man, aber es gab
auch die Fähigkeit mit dem Anderen zu streiten und ihn doch leben zu lassen.
Auch etwas, das uns gerade wieder verlorenzugehen droht.
erzengerade, mit klarer Stimme
las der weißrussische Dichter. Eine für deutsche Verhältnisse ungewohnt echte
Emphase lag im Klang seiner Stimme. Man spürte die in drei Jahrzehnten geübte
Selbstbehauptung des lauteren Wortes gegenüber staatlicher und bürokratischer
Macht. Bereits im Studium wurde Rasanu mit Sanktionen belegt, weil er für die
weißrussische Sprache an der Universität eintrat. Wenn die Wahrheit keinen
Platz in Gesellschaft und Staat findet, wird der Schriftsteller zu ihrem
Exilort. Soweit besteht eine Ähnlichkeit mit den russischen Schriftstellern des
Samisdat und der postbolschewistischen oft von Korruption und Werteverfall
geprägten Periode.
Damit aber enden die Gemeinsamkeiten auch schon. Wer für ein Gedicht, geschrieben in einer verfemten Sprache, das er ohnehin nicht veröffentlichen darf, Kopf und Kragen riskiert muß schon etwas Ernsthaftes zu sagen haben. Etwas Ernsthaftes auch für uns Zeitgenossen der Spaßgesellschaft, weit entfernt vom Leben in einem der ärmsten Länder Europas mit ungeheizten Wohnungen, nicht fahrenden Bussen, einer Diktatur in der seit Tschernobyl radioaktives Siechtum und radioaktiver Tod so alltäglich ist, wie bei uns ein Schnupfen.
Also erwartet uns jetzt eine
anklagende, aufrüttelnde und bewußtmachende Schärfe der Sprache? Eine bittere
Abrechnung mit den Verhältnissen und denen die sie zu verantworten haben? Ein
sich der Mittel der Ironie, des Sarkasmus und der Groteske bedienender Stil,
der die tägliche Groteske des Alltags mit gleicher Münze heimzahlt?
Nichts von alledem, stattdessen Worte, die wie Brot sind. Ein aus innerer Arbeit und persönlicher Lauterkeit gewonnenes Brot. Der Dichter liebt das Land, immer wieder tauchen Felder und Wege in seinen Gedichten auf. Auch in Hannover liebt er es, mit dem Fahrad hinauszufahren und die Felder zu betrachten. Man fühlt sich an Georg Trakls Worte erinnert:
Wanderer, tritt still herein
Schmerz versteinerte die
Schwelle
Da erglänzt in reiner Helle
auf dem Tische Brot und
Wein.
Eine Nahrung bietet er uns in seinen Gedichten, die
dort wie hier selten und kostbar ist. Vielleicht darum sind seine Gedichte
in mittlerweile 22 Sprachen übersetzt.
Brot und Wein des
Abendmahls, Brot und Wein des Sabbattisches. Weißrussland ist auch
Ausgangspunkt und alte Heimat der Chassidim, der Frommen, die die Nähe Gottes
im Alltag suchten. Darauf angesprochen, sprach er bei einer früheren Lesung im
Künstlerhaus von der „chassidischen Luft“, die man in seiner Heimat verspüren
könne. Tatsächlich enthalten viele seiner Gedichte chassidische Motive wie etwa
der „Gast im eigenen Haus“, „Uralter Staub“, „Der Zauberlehrling“; vom Wort als
Wurzel der Dinge spricht er in der Diskussion unter Bezug auf ein Gedicht von
Stefan George.
Das alles kommt nicht als
geschickte, belesene Motivwahl daher, sondern als Ergebnis langer aufmerksamer
Spaziergänge in der eigenen Seele, die irgendwie Teil eines kollektiven
weißrussischen Unterbewußtseins ist. Unmerklich, wo der Dichter die Grenze
seiner eigenen Seele überschreitet und die weißrussische erreicht. Das Ich des
Dichters ist nicht die Hauptsache, sondern mehr das Fahrzeug, mit dem diese
weite, geheimnisvolle, dem Alltagsbewußtsein unbekannte Landschaft befahren
wird. „Wirklichkeit ist das, was wirkt,“ sagt C.G. Jung, der den Begriff des
kollektiven Unterbewußten prägte. In diesem Sinne wirkt auch die weißrussische
Dichtung nicht nur auf Weißrussland, sondern auch auf uns.
Sehr gelungen war die zweisprachige Präsentation der Lyrik, bei der Oskar Ansull die deutschen Übersetzungen von Elke Erb vortrug. Besonders der gemeinsame Vortrag einiger Gedichte Zeile für Zeile weißrussisch-deutsch war ein nachahmenswertes Beispiel für die nie einfache zweisprachige Präsentation von Texten. Die Lesung im Rahmen des mehrmonatigen Faust-Projektes „Samin - Erde, Begegnung der Kulturen“ wurde aufgezeichnet und wird voraussichtlich am 1.1.2002 bei Radio Flora um 12.00 Uhr zu hören sein. Schön, wenn dann mehr als die 40 Zuhörer im Siesta erleben können, was für Hannover als ein kleines Literaturereignis zu bezeichnen ist.
esorientiert steht ein Mann
am Tatort eines Frauenmordes und versucht der Polizei, die er selbst gerufen
hat, Auskunft zu geben. Doch sein
Gedächtnis ist so fragil, wie die Verhältnisse, in denen er lebt. Die Geschichte spielt unter Menschen,
denen kein Begriff so fremd klingt wie
dieser eine, um den es geht: Heimat.
Die Figuren versuchen sich im großen
Gleichgültigkeitsfeld der Stadt Hannover zu behaupten. Da ist der Ich-Erzähler,
der sein fragmentarisches Ich zu
ergründen versucht – teils unter Mitwirkung
entfremdeter Dialoge mit einem Internet-Psychotherapeuten. Da ist der
Polizist, der die Wahrheit über mehrere
Frauenmorde herauszufinden versucht - nicht
zuletzt aus privaten Gründen. Da sind die Mitwohnerinnen und Mitemmigrantinnen des Protagonisten, die wie
er an der Straßenkreuzung Hannover
gelandet, sich mit teils üblen Jobs durchschlagen. Da sind schließlich einige
dem phantastischen Realismus entsprungene Figuren, die im Laufe der Geschichte immer realeren Charakter annehmen. Ihr
Rückgriff auf archetypisches Dasein
stellt sich mehr und mehr als eine Antwort auf das Nicht-Leben ihrer
urbanen Umgebung heraus.
So seltsam, wird allmählich deutlich, ist es gar
nicht mit Speer und Lendenschurz durch den nächtlichen Stadtwald zu streifen,
als allwissender Zwerg die Gesellschaft
zu beobachten oder als Kind Bärinnen vor der
Apotheke zu sehen.
Espen, der Taxifahrer hat - scheints - alles im
Griff, arbeitet sich geschickt durch die polizeilichen Vernehmungen und spielt
auf seinen Taxifahrten freundlich mit
den Einsamen, die er fährt. Tatsächlich ist die Perspektive des Taxifahrers eine gelungenen Herangehensweise an
den letzten Hauptdarsteller des Buches:
Hannover. Die aus dem Wagen beschriebenen Atmosphären gehören zum Besten und Treffendsten was von der stets
Um- und Undefinierten geschrieben worden
ist. Muszer erreicht darin ein ähnliches Niveau, wie es zuletzt Karl
Jacob Hirsch in dem Roman
"Kaiserwetter" mit dem Hannover seiner Zeit vor siebzig Jahren
gelang.
Der Autor zeigt viel schrecklich Wahres und wahrhaft
Schreckliches. Die Lektüre des Romans verlangt starke Nerven und viel
Lebensoptimismus vom Leser, der im
Verlauf des Buches erheblich auf die Probe gestellt wird. Muszer erspart sich
und uns nichts, schönt nichts und niemanden. Wenn es richtig eklig wird - und das passiert einige Mal ist es nicht der
Kunstgriff der Pop-Literaten, die
Bekanntschaft mit dem 'wirklichen Leben' vorzutäuschen versuchen.
Tennessee Williams, der amerikanische Dramatiker,
nach Hannover verirrt oder verbannt und an der Nicht-Aufgabe seines Humanismus
leidend hätte wohl Ähnliches zu Papier gebracht. Manchmal wird es aber auch
lustig, etwa wenn Muszer den althannoverschen
Glauben, man könne alles aber auch wirklich alles an der Volkshochschule lernen
für seine Geschichte nutzt. Dariusz, Literaturkritik habe ich natürlich auch an der Volkshochschule
gelernt, im Klassenraum daneben saß damals glaube ich der Gerd in "Wie
werde ich Bundeskanzler?"
Das Werk ist Muszers zweites deutsches Buch, dem
eine lange polnische Schreibpraxis voraus geht. Der Echsenmann ist kein
Trendbuch, sondern die bittere bis zum
Ende geführte Realisierung der Wahrheit, dass wir alle zunehmend das Dasein der
in jeder Beziehung Unbehausten führen. So ist es konsequent, wenn sich das
Ende im archetypisch belebten Stadtwald
abspielt. Wenn es schließlich heißt:"Dann starb er endlich." fühlt
man sich an den Schlußsatz von Jack Londons "König Alkohol" erinnert: "Dann verließ ihn alles
Wissen."
Zum Ende des Ersten
Weltkriegs
gegen die Vorbereitung eines
Dritten
ierundachtzig
Jahre ist es her, dass der Erste Weltkrieg im Westen zu Ende ging, im Osten hatte
er noch viele schreckliche Nachkommen. Er begann mit einer militärisch
ordnungspolitischen Maßnahme, dem Feldzug Österreich-Ungarns gegen Serbien. Sie
folgte auf das Attentat an dem österreichisch-ungarischen Thronfolger in
Sarajewo. Serbien wurde beschuldigt, die Aufklärung des Attentats nicht
entschieden genug durchzuführen. Die militärisch weit überlegenen Österreicher
brachten nach Ablauf eines Ultimatums in drei Wochen große Teile Serbiens unter
ihre Kontrolle.
Europa brachte dem alten
Kaiser Österreichs viel Verständnis entgegen und gleichzeitig lief die
vielgeübte europäische Diplomatie an, den Konflikt zu begrenzen und die
Interessen der verschiedenen Mächte auszugleichen.
Niemand wollte doch einen
großen Krieg, auch wenn die russische Regierung mittlerweile den Rückzug der
Österreicher ultimativ forderte. Natürlich konnte die deutsche Regierung nicht
teilnahmslos bleiben, wenn mittlerweile die Mobilmachung der russischen
Truppen lief. Man mußte sich durch eine Mobilmachung der eigenen Truppen
vor eventuellen Übergriffen Russlands schützen. Diese als Parteinahme für
Österreich verstandene Mobilmachung brachte England und Frankreich als
russische Verbündete auf den Plan. Die Telegramme zwischen dem deutschen Kaiser
und dem reussuschen Zaren sind teilweise mit “Lieber Willy” und “Lieber Niki”
überschrieben. Der Vorsitzernde der französischen Sozialisten, der Pazifist
Jaures wurde auf einer Versammlung erschossen auf der er die europäischen
Völker zum Widerstand gegen den Krieg aufrief. Kurze Zeit später sollten die
deutschen Sozialdemokraten den Kriegskrediten zustimmen mit Ausnahme Rosa&n
bsp; Luxemburgs und Karl Liebknechts.
Niemand hatte diesen Krieg
wirklich gewollt. Nach einer langen Friedenszeit (und einer breit betriebenen
Romantisierung des Militärs) konnte man sich nicht vorstellen, dass die
zivilisierten Nationen gegeneinander Krieg führten. Noch jetzt waren die von
der Propaganda in Hochstimmung versetzten Massen der an die Front abreisenden
Soldaten überzeugt, in sechs Wochen, ja spätestens Weihnachten wieder daheim zu
sein.
Doch die Gemeinheiten und
Bosheiten des jeweiligen Gegners, die schrecklichen Erfahrungen der
industriellen Kriegsführung einschließlich des Einsatzes von Giftgas ließen den
gegenseitigen Haß und die Entschlossenheit wachsen. Damit wuchs die
Bereitschaft immer schrecklichere Waffen einzusetzen. Auf allen Seiten gerieten
die Vernünftigen und Kompromißbereiten immer mehr in die Defensive. Man erlebte
doch wie böse und schrecklich der Feind sich verhielt.
as
Ergebnis war die Zerstörung Europas, die vollständige Verarmung der Menschen
Mittel- und Osteuropas, das Ende dreier Kaiserreiche. Die mit den menschlichen,
sozialen , politischen und finanziellen Folgewirkungen des Krieges
konfrontierten jungen Republiken - die Weimarer war eine - konnten diese Last
nicht bewältigen. Es begann der Aufstieg von Diktatoren, die ihre
Menschenverachtung in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs gelernt hatten.
Die großen Konfliktlinien der
Welt verlaufen heute nicht mehr zwischen Ost und West sondern zwischen Nord und
Süd. Dabei stehen vor allem die politisch gärenden islamisch geprägten Staaten
Nordamerika und Europa einschließlich Rußlands gegenüber. Dabei nimmt sich
mittlerweile eine Seite das Recht ganze Staaten mit ordnungspolitischen
militärischen Maßnahmen zu überziehen, wenn sie eine Aufklärung terroristischer
Akte oder deren möglicher Vorbereitung in ihrem Sinne nicht gewährleistet
sieht. Ähnlich wie zwischen Israelis und Palästinensern (und in der Vor- und
Frühphase des Ersten Weltkriegs) zählen nur die eigenen Opfer und die
Schrecklichkeiten des Gegners dienen zur Begründung des eigenen nächsten
Schlages. Die These, dass die Welt friedlicher wird, wenn ich das Haus meines
Nachbarn oder dessen Omnibus in die Luft sprenge, ist anfechtbar.
Aus dem Süden gesehen erinnern
viele Maßnahmen fatal an die nicht ferne Kolonialzeit. Sie erscheinen von
wirtschaftlichen Interessen und gewollter politischer Dominanz des Nordens
diktiert. In erster Linie von dem Wunsch nach dauerhafter Kontrolle über die
Erdölregionen.
Die armen Massen des Südens
ohne Aussicht auf Bildung, Arbeit, Entwicklung sind, wenn sie ohne Hoffnung auf
Verbesserung der Situation bleiben, politisch den Fanatikern ausgeliefert. Das
diese dort nicht mit den Augen des Nordens gesehen werden, konnte man
gerade an den Reaktionen der tschetschenischen Bevölkerung auf die
Geiselnahme in Moskau erkennen.
Wie man krasse
Wohlstandsgefälle mit all ihren sozialen (Migration) und politischen
Begleiterscheinung (Demokratien, die sich erst finden müssen) entschärfen kann,
zeigt die Osterweiterung der EU. Es ist nämlich so, dass auch eine geringe
Hoffnung auf Verbesserung, ja das bloße Gefühl, der Besserstehende zeige einem
nicht die kalte Schulter, Menschen und Nationen friedlich stimmen kann.
Es ist - aufs Ganze gesehen -
nur eine verschwindend kleine Minderheit im Süden wie im Norden, die den Krieg
will - blind für seine unbeherrschbaren Folgen. Alle Menschen, die miteinander
leben wollen im Norden wie im Süden können jeden Tag etwas dafür tun, dass das
auch in Zukunft möglich bleibt. Die große Verantwortung, nicht noch einmal auf
Kriegspropaganda hereinzufallen, haben uns unsere Vorfahren, die auf Europas
unendlichen Gräberfeldern liegen, als Ehrenpflicht hinterlassen. Treten wir - jeder
an seinem Platz - die Flammen aus, bevor sie uns alle verbrennen.
Roland Balzer
Ihr Hüter auf Wache, habt acht!
Die Sterne verstreut jede Nacht,
Erinnerungen gestriger Sommer,
Glühwürmchen in Gärten entfacht.
Vermischt florentinischen Sommer
mit Abschied vom Lido im Herbst.
Erinnerung dämmernder Morgen
an Ballsäle - dünstig - zerweht
an alles vergangene Schöne,
das niemals durch Sterben vergeht.
Das ferne Lächeln der Herzen,
Lebendiges, Totes behütet - bedacht,
sieht auf euch besorgt und verlassen -
ihr Hüter auf Wache, habt acht!
Ihr Hüter auf Wache, habt acht!
Das Leben will leben und lebt.
es schenkt nicht deshalb soviel Schönes,
damit es in Flammen zergeht,
durch dumme und gierige Greuel,
so traurig das Menschsein auch ist,
die Losung der heldischen Bestien,
die Sterne verstreuende Nacht,
sie lassen auch heut nicht vergessen
den Glauben, durch Schönheit entfacht.
Ihr, die ihr noch da seid bewahrend -
ihr Hüter auf Wache, habt acht!
Endre Ady (1915)
Nachdichtung aus dem Ungarischen von Heinz Kahlau