Chronologisch beginnt die vorliegende Sammlung dort, wo
der erste Band abschließt: Bei Shelley und Keats. Es schien uns einerseits
dem Wesen und Sinn einer Anthologie zuwider zu laufen, wenn wir einzelnen
Autoren ein Übergewicht einräumen, andererseits wollten wir aber auch dem
Rang der beiden Rechnung tragen, die nicht nur Kinder der Romantik waren,
sondern auch das Schreiben nachfolgender Autoren geprägt haben. Ein
angenehmer Nebeneffekt ist zudem, dass sich die beiden Anthologien nun
nahtlos an- oder besser gesagt ineinander fügen.
[...]
Die neuen Lebenswirklichkeiten, aber auch die Schulbildung immer breiterer
Bevölkerungsschichten brachten auch neue Impulse für Kunst und Literatur. Vor
allem Romane und Jugendbücher erlebten eine Blüte. Ein so dramatischer
Umbruch der Gesellschaft blieb auch für die Sonettdichtung nicht folgenlos.
Wo Rowland Eyes Egerton Warburton halb staunend, halb wehmütig die Beschleunigung
des Alltags durch die neuen Eisenbahnen registriert, Arthur Henry Hallam das
Erblühen neuer Metropolen vom Range Babylons am Beispiel Edinburghs feiert,
rücken auch soziale Fragen mehr in den Fokus. Haben sich frühere kritische
Geister noch an der grausamen aber fernen Sklaverei abgearbeitet, so findet
Matthew Arnold nun eine verarmte Arbeiterklasse in den Großstädten vor. Die
Mehrzahl der Autoren steht allerdings noch in der Kontinuität romantischer Tradition.
Dort wo ein Stil zur Mode wird entsteht auch viel mittelmäßiges, gleitet
echtes inneres Naturerleben ab in Beschaulichkeit, wie wir es in Deutschland
auch im Biedermeier erlebten. Gegenbewegungen blieben nicht aus. Der
Aufschwung der englischen Prosa ist auch als Gegenpol zu allzu rührseliger
Massenlyrik zu verstehen. Ein Dilemma für Autoren, die ihre Themen weiterhin
im Privaten und Mystischen suchten, aber die tauglichsten Bilder durch
inflationären Gebrauch entwertet sahen. Dennoch waren die bedeutendsten
Sonettdichter keiner Avantgarde zuzurechnen. Nicht Hartley Coleridge, der
sich selbst in der Tradition seines Vaters und Wordsworth’s sah und nicht
Elisabeth Barrett-Browning, hier mit unbekannteren Stücken vertreten, die mit
ihren Portugiesischen Sonetten einen der populärsten Zyklen englischer
Liebesdichtung vorgelegt hat. Selbst der Prä-Raphaelit Dante Gabriel
Rossetti, als Maler mit allen Konventionen seiner Zeit hadernd, oft als
exzentrisch beschrieben, stellt sich als Dichter in die romantische
Tradition. Vermutlich hätte er das selber nicht so formuliert, wenn man aber
z. B. sein „Match with the Moon“ mit früherer Dichtung vergleicht wie Georges
Darleys „The Moon and the Sea“, beide in diesem Bändchen enthalten so atmet
aus ihnen unverkennbar ein verwandter Geist.
Mit Dante Gabriels und seiner Schwester Christina Georgina Rossettis Dichtung
schließt denn auch dieser Band. Alle 70 vorgestellten Sonette sind neu- etliche erstmalig
in deutsche Verse übertragen.
Auch in dieser Anthologie waren die vier beteiligten Übersetzer bemüht, der
Form der Originaltexte ebenso Rechnung zu tragen wie dem Inhalt. Dass die
Übertragungen im Deutschen erneut in Sonettform erscheinen, war demzufolge
wiederum die Grundbedingung. Auch bei Zeilenlänge und Versmaß waren waren nur
geringe Abweichungen zulässig. Dennoch ließ es sich nicht vermeiden, dem
Inhalt zuliebe mitunter auch bei der Form Kompromisse zu machen. Das
umschlingende Vierer-Reimschema, abba – abba, ließ sich beispielsweise nur in
relativ seltenen Fällen erhalten.
Es wird auch in diesem Band kein Anspruch auf eine „repräsentative Auswahl
der besten Sonette ihrer Zeit“ erhoben. Die Auswahl wurde zumindest teilweise
durchaus von den persönlichen Neigungen der jeweiligen Übersetzer bestimmt,
die in ihrer Mitarbeit völlig freie Hand hatten und sich mit Eifer und Liebe
zum Text in die Aufgabe stürzten.
Wir wünschen den
Lesern viele genussreiche und besinnliche Stunden mit unserer zweisprachigen
Auswahl an viktorianischen Sonetten.
Sibylle Ferner und Dirk Strauch
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